Weihnachtsgeschichte 2019 - MeineMitte - Engelkerzen

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Weihnachtsgeschichte 2019

Nicht ein einziges!
 
 
Der kleine Karl war ausgesprochen schüchtern und zurückhaltend. Eines Tages aber kam er von der Schule nach Hause und eröffnete seiner Mutter, dass er jedem seiner Mitschüler ein Nikolaussäckchen basteln wolle. Sie stöhnte innerlich auf. 'Wenn er doch bloß nicht auf diese Idee gekommen wäre!', dachte sie, denn sie hatte die Kinder des Öfteren auf dem Heimweg von der Schule beobachtet. Ihr Karl war immer allein für sich geblieben, während die anderen lachten und sich aneinander einhakten und miteinander schwatzten. Karl war immer der Außenseiter. Trotzdem entschloss sie sich, ihrem Sohn zu helfen. Sie kaufte Papier, Klebstoff und Stifte und drei Wochen lang war Karl Abend für Abend konzentriert damit beschäftigt, fünfunddreißig Nikolaussäckchen zu basteln.
 
 
Am Morgen des Nikolaustages war Karl fürchterlich aufgeregt. Er legte seine Säckchen sorgfältig auf einen Stapel, steckte sie in einen Beutel und rannte zur Tür hinaus. Seine Mutter macht sich unterdessen daran, ihm seine Lieblingsplätzchen zu backen. Sie wollte sie ihm nach der Schule warm und duftend mit einer Tasse heißen Kakao servieren. Vielleicht würde  ihn das ein wenig trösten, wenn er enttäuscht nach Hause kam. Es schmerzte sie, daran zu denken, dass er von den anderen sicherlich keine Nikolaussäckchen bekommen würde – vermutlich nicht mal ein Einziges.
 
 
Am Nachmittag standen die noch warmen Plätzchen und der Kakao auf dem Tisch bereit. Als sie die Kinder kommen hörte, sah sie zum Fenster hinaus. Und da waren sie – lachend und vergnügt wie immer. Und wie immer ging Karl ein Stück hinter ihnen. Seine Hände waren leer. Er ging ein wenig schneller als sonst. Sie rechnete fest damit, dass er sofort zu Weinen anfangen würde, sobald er im Haus war. Sie ging zur Haustür, um sie für Karl zu öffnen, während sie mit ihren Tränen kämpfte.
 
 
"Ich habe Plätzchen und Kakao für Dich, Karl", sagte sie, als sie ihm die Tür öffnete. Karl aber hörte kaum was sie sagte. Mit leuchtenden Augen stürmte er herein und rief:
 
"Nicht ein Einziges! Nicht ein Einziges!"
 
Sie fühlte die Enttäuschung in sich aufsteigen.
 
Und dann fuhr Karl lächelnd fort:
 
"Nicht ein Einziges habe ich vergessen! Nicht ein Einziges!"
 
 
(leicht abgewandelt. Aus "Mehr Hühnersuppe für die Seele'; Arkana Vlg; 2001)
 
 

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